Malerei als Verheißung oder von der energetischen Verdichtung der Farbe

Gedanken zu einigen Bildern von RAINER GERSON

Wege über die leuchtend farbigen Bildflächen setzen die breiten und schmalen Pinselstränge, die sich berühren und überschneiden, sich verknäueln oder von einander wegstreben und zunächst eine einfache und klare Figur-Grund-Beziehung anzubieten scheinen. Die strukturelle Vieldeutigkeit, kompositorische Raffinesse und malerische Komplexität, die an den früheren gestisch-expressiven Bildern ebenso beeindruckt wie an den neueren , die sich einer eher geometrisch-abstrakten Richtung nähern, erschließt sich erst allmählich. Auffällig ist, dass Gerson seine Farben sorgfältig schichtet – manchmal zart lasierend, manchmal mit kräftigem Farbauftrag - und diese Schichten an einzelnen Stellen frei liegen oder aus dem Geflecht der Pinselschwünge aufblitzen läßt. So erweist sich die scheinbare Klarheit der kompositorischen Bezüge als verheißungsvolles Lockmittel, um den Blick zu fesseln und in eine geheimnisvolle Tiefe zu ziehen.

Um es gleich zu gestehen: die Malerei von Rainer Gerson vermag ihre Geheimnisse zu wahren. Alle Augenlust, die einen ergreift, wenn der schweifende Blick die farbigen Gründe abtastet, den abrupten oder allmählichen Farbveränderungen und Farbverläufen folgt, den Pinselspuren in die Verästelungen und Verknäuelungen nachspürt, ihre Verflechtungen nachvollzieht und ihre Formungen ergründet, vermag die Erregung des visuellen Sinnes zu stimulieren und zu halten. Doch auch eingehende Betrachtung läßt nicht das Empfinden aufkommen, man habe die Bilder wirklich „verstehen“ können und das ist ein unmittelbares Resultat der künstlerischen Gestaltungsprozesse.

Über den vibrierenden Farbschichten wird die Farbe mit dem Malgerät mal in dynamischen Kurven, mal in sanft schwingenden Bögen über die Bildfläche getrieben und bildet die sichtbaren Spuren von kontrollierten Armbewegungen, die sich in der Spannung zwischen Gestaltungsabsicht und Geschehenlassen ereignen, wobei jede nachfolgende Handlung eine Reaktion auf die bisherigen Malakte ist. Die sichtbaren Ergebnisse dieses dialogischen Prozesses zwischen Künstler und Bild verraten etwas von der Eindringlichkeit dieser Vorgänge und regen mit ihren komplexen Verflechtungen und Beziehungen, ihrem Strömen und Verschwinden das sehende Denken des Betrachters an.

Lange habe ich darüber gebrütet, warum mir die Zuordnung der Bilderwelt Gersons zu einer expressiven Abstraktion als unpassend erscheint, doch glaube ich, dass weder der analytisch-destruktive Grundimpuls des deutschen Informel noch die unbekümmert-neugierige Experimentierfreudigkeit der amerikanischen Expressionisten zu seinen Antrieben gehört. Vielmehr erscheinen mir seine in Serien und Zyklen erarbeiteten Bilderreihen als Erfolge eines systematisch forschenden und strukturierenden Geistes, der seine Suche nach dem Wesen der geformten Farbe, ihrer visuellen Qualitäten und sichtbaren Erscheinungsweisen mit eindrucksvoller Intensität und Leidenschaft betreibt und auf dem rechteckigen Bildträger zu einzigartigen Ergebnissen verdichtet. 

Gersons Bilder sind natürlich unübersehbar „abstrakt“, da sie keine erzählerisch-inhaltliche Konnotation erlauben und keiner wie auch immer gearteten Gegenständlichkeit verpflichtet sind. Aber sie entstehen nicht aus kreativen Zufällen oder emotionalen Erregungszuständen, die ungeplant und ohne kontrollierte Steuerung auf die Bildfläche geschleudert werden. Vielmehr entwickelt der Maler seine Bildkompositionen überlegt konstruierend aus den Bezügen von Bildfläche und Pinselbewegung, bei denen die Schichtungen der Farben, ihre aufeinander bezogenen Formen und Bewegungen, in einer Art „vor-gegenständlichen“ Bildsprache erscheinen. Malerische Grundrichtungen wie Horizontale, vertikale und Diagonale sowie Basiselemente wie Kreis, Dreieck, Ellipse, Kreuz werden in komplexe Bezüge zum geschichteten Bildgrund gebracht.

Die farbstarken Kontraste und die ausdrucksvolle Frische der Pinselschwünge strahlen dabei einen ebenso vitalen wie impulsiven Gestaltungswillen aus, doch will dieser mir bei näherer Betrachtung eher als kalkulierte Gestaltungabsicht erscheinen. Auch wenn diese einem strukturierten Bildfindungsprozeß folgt, kann sie die ungeplanten Spritzer, Fließspuren und Farbtropfen des Malprozesses zulassen und kompositorisch so integrieren, dass eine harmonische Verbindung zwischen geplanten und spontanen Malakten entsteht.

Der Versuch, sich der Malerei von Rainer Gerson mit den Mitteln der Sprache zu nähern, kann nur zu unvollkommenen Ergebnissen führen. Seine Malerei untersucht und gestaltet die Farbe als visuelles und materielles Phänomen und offenbart sich dem sinnenden Schauen als nichtsprachliches Erlebnis. Die vibrierenden Flächen, in denen die Farbe schwebt und pulsiert und sich in kaum mit dem Auge unterscheidbaren minimalen Veränderungen ereignet, überwältigen den Betrachter durch ihre intensive Leuchtkraft und Präsenz. Die spannungsvollen Farb- und Formkontraste wirken stimulieren auf das Bedürfnis des sehenden Auges, die Formen zu entdecken und zu deuten. Gerson regt so die Lust des Schauens auf neue und ungewöhnliche Weise an und bleibt doch das, was er immer war: ein Meister in der Konkretion der Farbe.

Berlin, Dez. 2004/Juni 2005                                                          Brigitte Hammer